03641 - 62 82 72 kontakt@kanzlei-elster.de

In einer von uns erstrittenene Entscheidung vom 16.08.2017, Az.: 5 K 21585/16 Me hat das Verwaltungsgericht Meiningen einer afghanischen Geflüchteten die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG wegen einer geschlechtspezifischer Verfolgung durch eine Zwangsheirat zugesprochen. Das Gericht führt in seiner Entscheidung dazu aus:Urteilsgründe:

„(…) Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen hat die Klägerin zu 2) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund einer Verfolgung wegen ihres Geschlechts. Das Gericht ist davon überzeugt, dass sie ihr Herkunftsland auf begründeter Furcht vor Verfolgung vor einer Zwangsheirat verlassen hat. Im Falle einer Rückkehr in ihre Heimatregion beziehungsweise in die des Klägers zu 1) wäre sie Repressionen sowohl seitens der Familie des durch ihren Bruder getöteten Mann als auch des Mannes, dem sie zur Frau versprochen war, ausgesetzt, weil sie sich der Zwangsheirat entzogen hat.

Für das erkennende Gericht bestehen nach dem Vorbringen der Kläger zu 1) und 2) sowie des Klägers des mitverhandelten Verfahrens 5 K 20459/17 Me keine durchgreifenden Anhaltspunkte, am Wahrheitsgehalt der geschilderten Erlebnisse zu zweifeln. Die Klägerin zu 2) hat in überzeugender Weise und ohne Widersprüche das Verfolgungsgeschehen geschildert. Ihre gegenüber dem Bundesamt gemachten Angaben stimmen im Wesentlichen mit denen in der mündlichen Verhandlung überein. Der Glaubhaftigkeit ihres Vortrages steht nicht entgegen, dass sie vor Gericht detailreichere Ausführungen gemacht und ihren Vortrag gegenüber dem beim Bundesamt insgesamt ergänzt und erweitert hat. Dies stellt sich nicht als gesteigertes Vorbringen dar, sondern vielmehr als Präzisierung der sich aus der Niederschrift über die Anhörung beim Bundesamt ergebenden Unklarheiten.

Soweit die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid die Angaben der Kläger für unplausibel, im Wesentlichen unsubstantiiert und vage hält, vermag das Gericht dem nicht zu folgen. Die Klägerin zu 2) hätte zum Verfolgungsschicksal, weil es primär ihre Familie betrifft, offensichtlich ausführliche Angaben machen können, als der Kläger zu 1). Dennoch wurde sie im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt nur sehr knapp befragt. Nach Bl. 4 der Niederschrift über die Anhörung sollte sie lediglich die Asylgründe des Klägers zu 1) bestätigen. Darüber hinaus wurden der Klägerin zu 2) keine detaillierten Fragen gestellt. Vielmehr wurde sie pauschal danach gefragt, was sie dazu sage und ob sie noch etwas anderes vortragen wolle. Es ist seitens des Gerichts nachvollziehbar, dass die Klägerin zu 2) in dieser Situation gar keine Veranlassung sah, Details und Hintergründe genauer darzustellen. Jedenfalls haben die Kläger mit ihren ausführlichen Darstellungen der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung jegliche Bedenken an ihrer Glaubwürdigkeit ausgeräumt.

Hinzu kommt, dass der Vortrag der Klägerin zu 2) auch in keinen unauflösbaren Widersprüchen zu den Angaben ihres Ehemannes, dem Kläger zu 1), und ihres Bruders, dem Kläger des Verfahrens 5 K 20459/17 Me, steht. Etwaige Ungereimtheiten der Schilderungen, etwa zu den Umständen, wie ihr „Zwangsehemann“ letztlich in das Gefängnis gekommen ist, stehen der Glaubhaftigkeit des vorgetragenen Verfolgungsschicksals nicht entgegen. Die diesbezüglichen Angaben wurden von den Klägern nicht selbst erlebt. Es handelt sich vielmehr um Wissen vom Hörensagen.

Die Klägerin zu 2) hat in der mündlichen Verhandlung einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Sie vermochte glaubhaft darzulegen, dass ihr Bruder den Bruder der Tante umgebracht und damit die Ehre der Familie des Getöteten verletzt hat. Es steht für das Gericht fest, dass die Klägerin zu 2) zur Kompensation für diese Blutschuld ohne ihren Willen bereits als Kind dem Sohn des Getöteten versprochen war. Sie hat nachvollziehbar dargelegt, dass die Familie des Getöteten zunehmend Druck auf ihre Familie ausgeübt hat. Auch aus der emotionalen Bewegtheit, mit der sie die einzelnen Umstände in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, schließt das Gericht, dass es sich bei den Schilderungen um wahre Begebenheiten handelt. Infolge der eingegangenen Ehe mit dem Kläger zu 1) ist die Ehre der Familie des Getöteten ein weiteres Mal verletzt worden. Schließlich ist das Gericht davon überzeugt, dass die Kläger in der Heimatregion des Klägers zu 1), die im Übrigen nicht weit entfernt vom Heimatdorf der Klägerin zu 2) ist, durch die Familie des Getöteten entdeckt worden sind. Aufgrund der akuten Gefahrensituation sind sie letztlich geflohen. Bei einer Rückkehr wäre zur Überzeugung des Gerichts zu erwarten, dass die Klägerin zu 2) durch die Familie des Getöteten beziehungsweise ihres „Zwangsehemanns“ zur Strafe misshandelt, unter Umständen sogar getötet werden würden.

Die Schilderungen sind auch in Ansehung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan plausibel und decken sich mit denen dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnissen. Nach den vorliegenden Auskünften sind Zwangsheirat, Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren, der „Austausch“ weiblicher Familienangehöriger zur Beilegung von Streitigkeiten sowie häusliche Gewalt gegen Frauen weit verbreitet (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Oktober 2016, S. 15; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.09.2016, S. 17 f.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 71). Die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan geht davon aus, dass 60 – 80 % aller Ehen in Afghanistan ohne Zustimmung oder gegen den Willen der Ehegattin oder des Ehegatten geschlossen werden (UNHCR a.a.O., S. 70). Demzufolge entscheiden Eltern oft über die Zukunft ihrer Töchter, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Dies gelte unabhängig von der Gemeinschaft, Ethnie oder Region. Arrangierte Ehen in Afghanistan seien Teil eines komplexen Systems von Traditionen, Loyalitäten und Autoritäten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 1.12.2015 zu Afghanistan: Verlobung und Heirat, Zwangsheirat, Sicherheitslage in Kabul, S. 2). Laut Max Planck Institute (Juli 2012) wird die individuelle Suche nach einem Ehepartner oder einer Ehepartnerin als schändlich angesehen, besonders wenn die Suche von einer Frau initiiert wird (vgl. a.a.O., S. 3).

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Afghanistan ist weit verbreitet (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Oktober 2016, S. 14; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 68 m.w.N.). Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen fänden laut Auswärtigem Amt zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichten von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord (vgl. Lagebericht des Auswärtigem Amtes, Stand: Oktober 2016, S. 14).

Die Flucht vor einer Zwangsverheiratung kann Auslöser für einen Ehrenmord sein (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 74).

Die Verfolgungshandlung knüpft im Fall der Klägerin zu 2) auch an einen Verfolgungsgrund an, nämlich einer Verfolgung wegen des Geschlechts (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), da sie ihre Heimat wegen einer drohenden Zwangsverheiratung verlassen hat. Die ihr in Afghanistan drohende geschlechtsspezifische Verfolgung geht von ihren „Zwangsehemann“ und dessen Rache suchender Familie, mithin von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG, aus. Zu diesen nichtstaatlichen Akteuren zählen auch Einzelpersonen (vgl. BVerwG, U. v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 – juris).

Es existieren in Afghanistan keine Akteure, die vorliegend Schutz vor Verfolgung bieten könnten, vgl. § 3d AsylG. Die Islamische Republik Afghanistan ist hierzu erwiesenermaßen nicht in der Lage. Dies wäre nur der Fall, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die einer Verfolgung darstellen, und wenn die Klägerin Zugang zu diesem Schutz hätte, vgl. § 3d Abs. 2 AsylG. Nach der Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt.

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016 (S. 15) stärken Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zwar die Rechte der Frau. So bekräftigt die afghanische Regierung anlässlich des dritten „Symposiums of Afghan Women´s Empowerment“ im Mai 2016 in Kabul auf höchster Ebene den Willen zur Umsetzung. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals daran. Eine Verteidigung der Rechte der Frauen sein in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in wenigen Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten seien häufig nicht in der Lage oder aufgrund traditioneller Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Viele Gewaltfälle gelangten nicht vor Gericht, sondern würden von traditionellen Institutionen zur Streitbeilegung verhandelt. Diese traditionelle Streitbeilegung führe oft zu Verletzungen von Rechten der Frauen (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 14). Darüber hinaus geschehe es immer wieder, dass Frauen, die entweder eine Straftat zur Anzeige brächten oder aber von der Familie aus Gründen der „Ehrenrettung“ angezeigt würden, wenn sog. Sittenverbrechen wie z.B. „zina“ (außerehelicher Geschlechtsverkehr) im Fall einer Vergewaltigung verhaftet oder wegen „Von-zu-Hause-Weglaufens“ (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der zina gewertet) inhaftiert würden (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 69). Nach alledem ist davon auszugehen, dass in Afghanistan kein wirksamer staatlicher Schutz vor einer drohenden Zwangsheirat existiert, zu dem die Klägerin zu 2) Zugang hätte. Sonstige schutzbereite Akteure sind nicht ersichtlich.

Die Gewährung von Flüchtlingsschutz kommt nur in Betracht, wenn dem Asylsuchenden nicht die Möglichkeit internen Schutzes nach § 3e AsylG offensteht. Danach wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1) und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Von der Klägerin zu 2) kann jedenfalls nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich außerhalb ihrer Herkunftsregion, beispielsweise in Kabul, niederzulassen. „Vernünftigerweise erwarten“ kann man von dem Ausländer, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil auf Dauer aufhält bzw. dort niederlässt, wenn er am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (vgl. BVerwG, U. v. 31.01.2013 – 10 C 15/12 -, InfAuslR 2013, 241 = ZAR 2013, 297, juris). Das Bundesverwaltungsgericht hat bislang jedoch offen gelassen, welche darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards erfüllt sein müssen. Voraussetzung dürfte aber jedenfalls sein, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende wirtschaftliche Lebensgrundlage vorfindet. Hiervon ist im Fall der Klägerin zu 2) nicht auszugehen.

Die schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben sich aus Folgendem:

Die Versorgungslage im gesamten Land und auch in Kabul ist katastrophal. Trotz der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und erheblicher Anstrengungen seitens der afghanischen Regierung ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 21; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update. Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.09.2016, S. 24) und das ärmste Land der Region (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 31). Seit der Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes führte der Abzug der internationalen Streitkräfte zu sinkenden internationalen Investitionen sowie einer stark schrumpfenden Nachfrage (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 21 f.). So sind ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert haben (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 22). Eine sich verschlechternde Sicherheitssituation und die erhöhte Wahrnehmung von Unsicherheit – insbesondere auch durch den Abzug ausländischer Truppen -wirkt sich negativ auf neue Investitionen aus (vgl. Basisinformationen Afghanistan der D-A-CH-Kooperation v. 09.12.2013, S. 51; Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand November 2015, S. 23).

Das rapide Bevölkerungswachstum stellt darüber hinaus eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 21). Derzeit leben in Afghanistan rund 36 % der Bevölkerung unter dem Existenzminimum (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 21, UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 31). Dabei existiert ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte fehlt es vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 21). Laut UNHCR sind die humanitären Indikatoren auf einem kritisch niedrigem Niveau: 30 % der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, 6,3 % sind von ernsthafter Lebensmittelunsicherheit betroffen und 9,1 % der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 31; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 13), wobei bei letzterem eine Verbesserung zu sehen ist (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 23). Naturkatastrophen und extreme Natureinflüsse im Norden tragen zur schlechten Versorgung der Bevölkerung bei (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 23). Im Süden und Osten gelten nahezu ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: November 2015, S. 24). Neben der Versorgung von Hunderttausenden Rückkehrern und Binnenvertriebenen stellt vor allem die chronische Unterversorgung in Konfliktgebieten das Land vor große Herausforderungen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 5).

Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes ist die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40 % gestiegen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 22). Die Analphabetenquote ist hoch und die Anzahl der Fachkräfte gering (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.9.2016, S. 24). Die Landwirtschaft beschäftigt immer noch geschätzt 60 % der Bevölkerung, erzielt jedoch nur etwa 25 % des Bruttoinlandsprodukts.

Rückkehrer sehen sich, wie alle Afghanen, mit unzureichenden wirtschaftlichen Perspektiven und geringen Arbeitsmarktchancen konfrontiert, insbesondere wenn sie außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit aus dem Ausland zurückkehren und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie aktuelle Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen (Lagebericht des auswärtigen Amtes, Stand: November 2015, S. 5).

Viele Afghanen zieht es nach Kabul, wo die Einwohnerzahl zwischen den Jahren 2005 und 2015 um 10 % auf ca. 3,5 Millionen Einwohner gestiegen ist (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.09.2016, S. 27 f., UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 33) und inzwischen teilweise auf mehr als sieben Millionen Menschen geschätzt wird (OVG Lüneburg, U. v. 19.09.2016 – 9 LB 100/15 -, juris). Dort gehört die Wohnraumknappheit zu den gravierendsten sozialen Problemen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.9.2016, S. 27). Laut UNHCR (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 33) befindet sich in Berichten zufolge ein großer Anteil der städtischen Haushalte mit mittlerem und niedrigem Einkommen in informellen Siedlungen in schlechter Lage und mit mangelnder Anbindung an Versorgung. Der Umfrage zu den Lebensbedingungen in Afghanistan für 2013/2014 („Afghan Living ConditionsSurvey“) zufolge leben 73,8 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slum-Haushalten.

Die Regierung hat sich jedoch ehrgeizige Reformziele gesteckt und plant unter anderem durch ein Stimulus-Paket Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: November 2015, S. 24; Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 22). Afghanistan befindet sich in einem langwierigen Wiederaufbauprozess (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 4). Im Jahr 2016 beträgt das Wirtschaftswachstum 1,5 % (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.9.2016, S. 2). Die internationale Gemeinschaft unterstützt die afghanische Regierung maßgeblich dabei, die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 22). Mehr als 95 % des afghanischen Budgets stammen auch im Jahr 2016 von der internationalen Staatengemeinschaft (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.09.2016, S. 2). Zum Jahresende 2014 hat das Jahrzehnt der Transformation (2015-2024) begonnen, in dem Afghanistan sich mit weiterhin umfangreicher internationaler Unterstützung zu einem voll funktionsfähigen und fiskalisch lebensfähigen Staat im Dienst seiner Bürgerinnen und Bürger entwickeln soll, wofür Afghanistan verstärkt eigene Anstrengungen zugesagt hat (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 4). Im Mai 2016 startete das Projekt „Casa 1000“, mit dem eine Stromleitung von Tajikistan nach Afghanistan errichtet und ab 2019 dem Energiemangel begegnet werden soll (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.09.2016, S. 25).

Das Verelendungsrisiko einzelner Bevölkerungsgruppen in Afghanistan weicht stark voneinander ab, für alleinstehende Personen bewegte es sich lediglich im Bereich zwischen 10 und 15 %; das Armutsrisiko stieg bei einer Haushaltsgröße von drei Personen (11 %) bis zu einer Haushaltsgröße von neun Personen (über 40 %) kontinuierlich und lag bei einer Haushaltsgröße von 15 Personen sogar bei über 45 % (OVG Münster, U. v. 27.01.2015 – 13 A 1201/12.A -, juris Rn. 48).

Nachdem im Jahr 2011 nur 7,5 % der Bevölkerung über eine adäquate Wasserversorgung verfügten, haben im Jahr 2016 46 % Zugang zu Trinkwasser (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.9.2016, S. 25; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 31).

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert, so werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult; der Anteil der Mädchen beträgt 37,5 %, nachdem sie unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 12).

Auch die medizinische Versorgung hat sich seit 2005 erheblich verbessert, was auch zu einem deutlichen Anstieg der Lebenserwartung geführt hat (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: November 2015, S. 24, 25). Dennoch besteht landesweit eine unzureichende Verfügbarkeit von Medikamenten, Ausstattungen und Fachpersonal, wobei die Situation in den Nord- und Zentralprovinzen um ein Vielfaches besser ist als in den Süd- und Ostprovinzen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 23). 36 % der Bevölkerung haben keinen Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 31). Insbesondere in ländlichen und unsicheren Gebieten sowie unter Nomaden kommt es zu schlechten Gesundheitszuständen von Frauen und Kindern (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.09.2016, S. 25). Aufgrund der Fortschritte in der medizinischen Versorgung hat sich allerdings etwa die Müttersterblichkeit von 1,6 % auf 0,324 % gesenkt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 23). Eine gute medizinische Versorgung auch komplizierter Krankheiten bieten das French Medical Institute und das Deutsche Diagnostische Zentrum (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 23). Eine Behandlung psychischer Erkrankungen findet nur unzureichend statt; in Kabul, Jalalabad, Herat und Mazar-e Sharif gibt es entsprechende Einrichtungen mit meist wenigen Betten (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 23, 24).

Auf Grund dieser Erkenntnislage geht das erkennende Gericht davon aus, dass zumindest Personen mit besonderem Schutzbedarf wie z.B. ältere oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit oder ohne Kinder, Familien und Personen mit besonderen ethnischen oder religiösen Merkmalen keine Möglichkeit haben, sich in Afghanistan eine neue Existenz aufzubauen. Soweit jedoch alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete kinderlose Ehepaare im berufstätigen Alter ohne die genannten vulnerablen Merkmale betroffen sind, ohne die Unterstützung der Familie und Gemeinschaft in einer Umgebung zu leben und sich eine Existenz aufzubauen, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bietet und die unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle steht (UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 99).

Nach den vorstehenden Ausführungen kann von der Klägerin zu 2) nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich in einer anderen Stadt in Afghanistan, wie beispielsweise Kabul oder Herat, niederzulassen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Familienangehörige wegen des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 GG nur gemeinsam Afghanistan zurückkehren können und demzufolge alle Familienangehörigen in die anzustellende Bewertung mit einzubeziehen sind (BayVGH, Urt. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 -, juris Rn. 21; VG Augsburg, Urt. v. 12.05.2017 – Au 5 K 17.31330 -, juris Rn. 26 m.w.N.; Urt. v. 11.01.2017 – Au 5 K 16.31988 -, juris Rn. 23 m.w.N.; VG Oldenburg, Urt. v. 20.04.2016 – 3 A 1975/14 -, n. v. zitiert nach juris). Nach der Überzeugung des Gerichts ist es für die Kläger zu 1) und 2) nicht möglich, auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt in Afghanistan eine Arbeit zu finden und den Unterhalt für die Familie zu erwirtschaften.
Es ist nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 2), die über keine Schulbildung verfügt und noch nie gearbeitet hat, zum Familieneinkommen beitragen könnte. In Afghanistan ist es nicht üblich und gesellschaftlich nicht anerkannt, dass Frauen arbeiten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.10.2016, S. 15). Frauen werden immer noch aufgrund traditioneller Werte diskriminiert; ihnen wird der Zugang zu Bildung wesentlich erschwert, so dass sie Analphabetismus und Armut überdurchschnittlich treffen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.9.2016, S. 29). Sie haben außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors kaum Berufsaussichten und müssen hierfür auch über Beziehungen und Vermögen verfügen (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.10.2016, S. 15). Im Übrigen hätte die Klägerin zu 2) kaum Zeit einer Arbeit nachzugehen, da sie sich um ihre betreuungsbedürftige Tochter kümmern müsste.

Das Gericht ist der Auffassung, dass der Kläger zu 1) trotz seiner Berufserfahrung angesichts der Vielzahl der arbeitssuchenden jungen Männer in Afghanistan nicht in der Lage sein würde, eine Anstellung zu finden, um den Lebensunterhalt seiner Ehefrau und seiner Tochter mit zu erwirtschaften. Erschwerend kommt, gerade auch hinsichtlich der Möglichkeiten eine gut bezahlte Anstellung zu finden, hinzu, dass die Kläger der Volksgruppe der Hazara angehören (vgl. ACCORD: Anfragebeantwortung vom 21.11.2016 zu Afghanistan: 1) Existenzmöglichkeiten für minderjährige unbegleitete Hazara ohne berufliche Ausbildung und verwandtschaftliche Beziehungen; 2) medizinische Versorgung, medikamentöse Versorgung (inkl. Kostenfaktor); 3) Versorgungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung).
Auf familiäre oder verwandtschaftliche Hilfe können die Kläger aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte nicht zurückgreifen. Zudem kann nicht angenommen werden, dass die Kläger ohne Unterstützung eine adäquate Unterkunft finden würden, in der auch ihr Kind angemessen leben kann. Denn der afghanische Staat ist nach den obigen Ausführungen jetzt schon kaum mehr in der Lage, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Aufgrund mangelnder Flächen und erschwinglicher Unterkünfte in städtischen Gebieten sind Rückkehrer häufig gezwungen, in informellen Siedlungen ohne angemessenen Lebensstandard zu leben (UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 34). Unter Berufung auf UNICEF (United Nations Children´s Fund) wird in den UNHCR-Richtlinien 2016 dargelegt, dass Familien häufig keine andere Wahl hätten, als in Slums zu wohnen, wo sie keinen Zugang zu akzeptablen Wohnbedingungen, Wasser, sanitären Einrichtungen, Gesundheitsversorgung und Bildung hätten (vgl. a.a.O.). Diese informellen Siedlungen seien durch schwierige naturgegebene Merkmale wie extreme Winter, beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und unhygienischen Bedingungen geprägt, was bei Kleinkindern besonders ins Gewicht fällt (Bay. VGH, Urt. v. 23.03.2017 – 13a B 17.30030 -, juris Rn. 22). Aufgrund der Gesamtumstände, insbesondere auch deshalb, weil die Kläger zu 1) und 2) über lange Zeit im Iran gelebt haben, muss davon ausgegangen werden, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten, die ihnen nicht zugemutet werden kann. Dieser Auffassung war auch die Beklagte im angefochtenen Bescheid, da sie zugunsten der Kläger ein Abschiebungsverbot festgestellt hat. Auch die im Falle der Rückkehr gewährten Starthilfen über das ERIN- und das REAG/GARP-Programm vermögen ein menschenwürdiges Dasein für die Kläger nicht sicherzustellen (vgl. Bay. VGH, Urt. v. 23.03.2017 – 13a B 17.30030 -, juris Rn. 24).

Nach alledem war der Klage der Klägerin zu 2) stattzugeben. Auf die Hilfsanträge kommt es daher nicht mehr entscheidungserheblich an.

2. Die zulässige Klage der Kläger zu 1) und 3) ist teilweise begründet. Sie haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylG (nachfolgend unter a)), jedoch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG (nachfolgend unter b)). Der insoweit rechtswidrige Bescheid war aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger zu 1) und 3) den subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Im Übrigen erweist sich der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 26.10.2016 im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG in der Fassung vom 31.07.2016, BGBl. 2016, S. 1939 ff.) als rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

a) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Fülchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet (vgl. oben unter 1.).

Bei den Klägern zu 1) und 3) liegt anders als bei der Klägerin zu 2) ein Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 1 – 5 AsylG nicht vor. Die Probleme, die die Kläger zu 1) und 3) in ihrer Heimat wegen der Klägerin zu 2) zu befürchten hätten, beruhen weder auf ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

Es ist auch davon auszugehen, dass Hazara, die mehrheitlich schiitischen Glaubens sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.9.2016, S. 22), in Afghanistan keiner an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden politischen bzw. religiösen Gruppenverfolgung ausgesetzt sind (vgl. BayVGH, B. v. 20.01.2017 – 13a ZB 16.30996 -; BayVGH, Urt. v. 01.02.2013 – 13a B 12.30045 -, VG Ansbach, Urt. v. 28.04.2015 – AN 11 K 14.30570 -, VG Würzburg, Urt. v. 26.04.2016 – W 1 K 16.30269 -, VG Augsburg, Urteil vom 19.01.2017 – Au 5 K 16.32053 -, alle zitiert nach juris). Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich aus einer anlassgeprägten Einzelverfolgung, aber auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Betroffene mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Annahme einer solchen Gruppenverfolgung setzt nach höchstrichterlichen Rechtsprechung voraus, dass eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegt, die die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass darauf für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr einer Betroffenheit besteht. Zudem gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, wenn also auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar ist (vgl. zum vorstehenden BVerwG, – Urteil vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243 ff. zitiert nach Juris).

Der Kläger zu 1) hat nicht vorgetragen, dass er persönlich aufgrund seiner Volks- und Religionszugehörigkeit verfolgt worden ist. Die obigen Ausführungen zugrunde gelegt, bestehen auch unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrages keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung der Hazara in dieser Region. Selbst wenn dies gegeben wäre, so droht dem Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara nicht die Gefahr einer landesweiten Verfolgung. Laut Lagebericht des Auswärtigen Amtes machen die Hazara etwa 10 % der Bevölkerung in Afghanistan aus. Ihre Lage hat sich nach ihrer besonderen Verfolgung während der Taliban-Herrschaft grundsätzlich gebessert, sie sind aber in der öffentlichen Verwaltung immer noch unterrepräsentiert und gesellschaftliche Spannungen bestehen in lokal unterschiedlicher Intensität fort (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016, S. 9). UNAMA hat für 2015/2016 eine signifikante Zunahme von Übergriffen, Entführungen und Ermordungen Angehöriger der Hazara seitens der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Gruppierungen festgestellt. Hazara sind hiernach zudem mit sozialer Diskriminierung konfrontiert und häufig Opfer von Erpressungen, illegaler Besteuerung, Zwangsrekrutierung und -arbeit sowie physischen Übergriffen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage v. 30.09.2016, S. 22). Auch unter Berücksichtigung der jüngsten Anschläge, die sich gegen Schiiten richteten verfügen die Verfolgungshandlungen, denen Schiiten in Afghanistan ausgesetzt sind, nach Auffassung des Gerichts nicht über die dargestellte für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte.

b) Die Kläger zu 1) und 3) haben einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Dieser Anspruch geht den Abschiebungsverboten nach nationalem Recht – § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG – vor (vgl. noch zu § 60 Abs. 2 ff. AufenthG: BVerwG, U. v. 08.09.2011 – 10 C 14/10 -, BVerwGE 140, 319 ff., juris).

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür geltend gemacht werden, dass der Schutzsuchende im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre. Unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung sind Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (Renner/Bergmann, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 60 AufenthG Rn. 34 f., m.w.N.). Bei der Prüfung, ob eine konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht, ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzulegen, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit steht die Rechtsgutsverletzung bevor, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise, d.h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Die in diesem Sinne erforderliche Abwägung bezieht sich nicht allein auf das Element der Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch auf das Element der zeitlichen Nähe des befürchteten Ereignisses; auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs ist in die Betrachtung einzubeziehen (BVerwG, B. v. 10.04.2008 – 10 B 28.08 -, juris Rn. 6; U. v. 14.12.1993 – 9 C 45.92 -, juris Rn. 10 f.; U. v. 05.11.1991 – 9 C 118.90 -, juris Rn. 17). Für die Feststellung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 die §§ 3c bis 3e AsylG sowie sie Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL entsprechend.

Auf Grund der ausführlichen Angaben der Kläger in der mündlichen Verhandlung sowie aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel geht das Gericht davon aus, dass für die Kläger zu 1) und 3) im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG seitens der Familie des Getöteten ausgesetzt wären.

Das Gericht hat entsprechend der obigen Ausführungen keinen Zweifel daran, dass der Kläger zu 1) im Falle der Rückkehr in seiner Herkunftsregion von der Familie des Getöteten misshandelt, gegebenenfalls sogar getötet wird. Da der Kläger zu 1) die Klägerin zu 2) heiratete, obwohl diese bereits zur Begleichung der Blutschuld versprochen war, hat er die Ehre der Familie des Getöteten ein weiteres Mal verletzt. Aufgrund dieser Umstände ist es nicht ausgeschlossen, dass es zu Blutfehden und Racheakten kommt (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan v. 23.02.2017: 1) Zielen Rachehandlungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr nur auf den „Täter“ ab oder können auch andere Mitglieder seiner Familie zum Ziel werden; 2) Möglichkeit, bei staatlichen Stellen um Schutz vor Rachehandlungen anzusuchen).

Das Gericht ist ferner davon überzeugt, dass auch der gemeinsamen Tochter, der Klägerin zu 3), die aus der ungewollten Ehe hervorgegangen ist, ein Ehrverbrechen seitens der Familie des Getöteten drohen würde (vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07. August 2014 – 5a K 2573/13.A -, Rn. 43 f., juris m.w.N.).

Die Gewährung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG ist auch nicht gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG zu versagen, denn den Klägern zu 1) und 3) steht interner Schutz nach § 3e AsylG nicht zur Verfügung. Interner Schutz wäre zu bejahen, wenn die Kläger in einem Teil ihres Herkunftslandes keine begründete Furcht vor menschenrechtswidriger Behandlung haben müssten oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hätte (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und sie sicher und legal in diesen Landesteil reisen könnten, dort aufgenommen würden und von ihnen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich dort niederlassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Aufgrund der obigen Ausführungen kann von ihnen letzteres nicht vernünftigerweise erwartet werden.

Die Beklagte ist daher zu verpflichten, der Klägerin zu 2) die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen und für die Kläger zu 1) und 3) das Vorliegend des § 4 Abs. 1 AsylG festzustellen.“